Was wäre ein Leben ohne Genuss?
Ja klar, man soll sich nicht gehen lassen und einem Leben ohne Grenzen frönen. Nur, die Askese ist auch keine Lösung. Aber zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine sehr breite Mitte. Und über diese Mitte möchte ich heute berichten.
Ich gehe davon aus, dass der geneigte Leser dieses Blogs schon einiges an Leben eingesaugt hat und sich deshalb damit auskennt. Daher steige ich an dieser Stelle direkt dort ein, wo es vielleicht bereits ein bisschen schmerzt. Nämlich bei der Frage, laufe ich am Sonntag jetzt den Marathon oder laden wir Freunde zum Essen ein. Ich rate mal. Sie neigen zur zweiten Möglichkeit den Sonntag zu verbringen.
Lassen Sie mich etwas ausholen, warum Sie sich für diese Einstellung nicht schämen sollten. Als begeisterter Motorradfahrer begab ich mich mit meiner Frau auf eine kleine Tour nach Italien. Den ersten Abend verbrachten wir in einem Palazzo aus dem 15. Jahrhundert, der drei historische Zimmer für Gäste bereithält. Wir waren die einzigen Gäste und fühlten uns deshalb wie die Truchsesse dieser fürstlichen Behausung. Natürlich hatten wir auch Ausschau nach einer unserer Unterkunft entsprechenden Schänke gehalten und waren auf Tripadvisor fündig geworden. Wir verbrachten einen herrlichen Abend in historischer Umgebung. Ein Gläschen trockener Weisswein zur Vorspeise, danach ein Fläschchen Rotwein zum leckeren Abendessen, beide Weine natürlich aus lokalem Anbau, bescherten uns einen wundervollen Abend und trugen zum positiven Gesamtempfinden des Aufenthaltes bei. Am anderen Morgen sattelten wir wieder unser Motorrad und freuten uns auf die nächste Station in den italienischen Alpen. Soweit sollte es allerdings nie kommen.
Gegen Mittag werden wir unvermittelt aus unserem Traum gerissen. Wie wir gemütlich mit unserer Harley Davidson über die bewaldeten Landstrassen knattern und uns auf neue kulinarische Höhepunkte am Ende des Tages freuen, schiesst unvermittelt ein Raser aus einer Kurve heraus auf uns zu und schiesst uns ab. In einer unerwarteten Zehntelsekunde endet unsere Genussreise. Anstatt zu fahren liegen wir am Boden und anstatt nach einem Restaurant Ausschau zu halten, warten wir auf die Ambulanz. Meine erste Sorge gilt meiner Frau. Auf meine Frage wie es ihr geht, antwortet sie mit gut, was sich später als nicht ganz richtig erweisen sollte. Ich weiss, dass ich noch lebe, die Schwere des Unfalls kann ich nur erahnen, wenn ich auf mein linkes Bein schaue, bei dem der Fuss im Motorradstiefel schlaff herunterhängt.
Die Ambulanz erscheint, die Carabinieri auch. Ich werde hastig in ein Fahrzeug verladen und zum nächsten Krankenhaus verbracht. Wenn ich den Gesichtsausdruck des Rettungssanitäters richtig deute, werde ich heute Abend wohl kaum in Cortina d’Ampezzo mit meiner Frau zu Abend essen. Und im Krankenhaus kommt es noch schlimmer. Nach einer ersten Notoperation, im Rahmen derer ich mich plötzlich in einer weissen Wolke wiederfinde und in dieser eine lange und merkwürdige Reise in mein innerstes Ich unternehme, bei der ich davon ausgehe, dass ich irgendwo ankomme, nur nicht mehr in meinem Leben, höre ich plötzlich die Stimme meiner Frau, die mir versichert, dass sie immer in meiner Nähe bleibe, ich jetzt aber mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik in Trento geflogen werde. Sie komme dann nach.
In Trento angekommen folgen weitere Operationen. Die Hektik der Ärzte verleitet mich zum Gedanken, dass meine Situation ernst sein könnte und ich mich nun nicht nur von dieser Genussreise, sondern wahrscheinlich auch von den Sommerferien verabschieden muss. Der Aufenthalt im Spezialkrankenhaus wird getrübt vom Pflegepersonal. Also, nichts wie weg hier. Gut habe ich fast vierzig Jahre den Mitgliederbeitrag an die REGA geleistet – immer im Wissen, dass ich diese nie beanspruchen muss. Ich sah das immer als Spendenbeitrag für eine wahrscheinlich gute Sache. Dass die Sache sogar sehr gut ist, erfahre ich zwei Tage später, als mich die REGA früh morgens aus dem Krankenhaus herausholt. Ja, herausholen ist schon der richtige Ausdruck. Die REGA als Kavallerie, die genau im richtigen Zeitpunkt einreitet, um die Helden vor dem sicheren Ende zu retten. Sogar meine Frau, die nach Trento nachgereist war, um in dem garstigen vier Betten Patientenzimmer in einem Stuhl neben mir - wenn nötig 7/24 Zeit zu verbringen – durfte mitfliegen. Gut eine Stunde später landeten wir auf dem Dach des USZ in Zürich.
Natürlich gab es weitere Operationen, an deren Ende ich ohne linken Unterschenkel dastand. Na ja, lieber unter dem Knie als darüber, dachte ich mir. Ich dachte mir aber auch, dass ich verdammt nochmal mit meiner Frau eine Genussreise unternehmen wollte und anlässlich dieser, lokale Spezialitäten und mit Liebe gekelterte Weine kennenlernen wollte. Und nun? Meiner Frau geht es wieder gut und ich befinde mich mittlerweile in der REHA, wo ich noch einige Zeit bleiben muss. Ohne schöne Weine zu probieren, denn hier herrscht für Patienten Alkoholverbot.
Sie fragen sich vielleicht, warum ich Ihnen alle diese intimen Details erzähle. Nun, eingangs schrieb ich, warum sie sich nicht schämen sollten, Freunde zum Essen einzuladen statt den Marathon zu laufen. Mit den vorgängigen Zeilen will ich Ihnen nahelegen, das Leben zu geniessen. Laden Sie Freunde zum Essen ein, wenn Ihnen danach ist. Geniessen Sie ein paar Gläschen Wein mit Freunden. Sie brauchen es ja nicht zu übertreiben. Nehmen Sie einen Bag-in-Box zur Hand und bestimmen Sie selbst wieviel Sie von den edlen Tropfen geniessen wollen.
Ich bin leider vorläufig ärztlich verordnet zwangsabstinent. Unverschuldet und bereits seit fünf Wochen. Wenn ich körperlich schon so weit wäre und aus ärztlicher Sicht wieder dürfte, so würde ich mir bei diesem Wetter ein Glas Rosato IGT aus der Venezia Giulia, vom Weingut der Familie Martincigh, gönnen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, so würde ich mir auch ein zweites und drittes Gläschen davon einschenken.
Alla vostra salute!